Volksfeststimmung in Jerusalem

Stadtkirche: Glasfenster Südseite. (Foto: FJ/Archiv)

Hätte es vor 2000 Jahren Zeitungen gegeben und zudem Menschen, die mächtig gewesen wären, diese zu lesen, dann hätten sie vielleicht an einem Montag im Frühjahr folgendes auf Seite 2 lesen können: «Jesus von Nazareth mit Glanz und Glorie empfangen!» 

Gestern Mittag trat am Löwenstadttor der Wanderprediger Jesus mit seinem Anhang bei uns ein. Eine grosse Menschenmenge drängte sich am Strassenrand und bereitete dem Gast einen würdevollen Empfang. Eine Musikkappelle spielte, viele hatten Palmzweige abgerissen und warfen sie mitten auf die Strasse. Es herrschte Volksfeststimmung. Jesus selbst trat gestern noch nicht öffentlich auf. Er gab weder Interviews noch war er zu einer Stellungnahme zu bewegen. Die Menschen feierten seine Ankunft bis in die Nacht hinein. Aus noch nicht bestätigten Quellen wissen wir, dass die Verantwortlichen unserer Stadt die Ankunft von Jesus alles andere als begrüssen. Es bleibt abzuwarten, ob wir seit gestern einen Aufwiegler in unserer Stadt beherbergen. Ja, es bleibt abzuwarten. 

Fisch einwickeln
Abzuwarten bleibt auch, was aus der Volksfeststimmung wird, die an diesem Sonntag, dem ersten Palmsonntag der Geschichte, herrscht. Zunächst ist da die tagesaktuelle Berichterstattung. Es ist was los in Jerusalem und die Reporter sind gleich dabei. Aber jeder weiss ja: Nichts ist unwichtiger als die Zeitung von gestern. Was gestern noch brandaktuell war, reicht heute allenfalls noch, um einen Fisch darin einzuwickeln. Wer heute hochgejubelt wird, kann morgen schon in der Gosse liegen. Öffentlich aufgetreten ist dieser Jesu an dem Tag nicht mehr, wohl aber in der kommenden Woche. Und die scheint den Reporter zu bestätigen, der meint, man habe einen Aufwiegler beherbergt. 
Ausraster
Kaum in Jerusalem vertreibt Jesus die Händler aus dem Tempel, der einzig bezeugte Ausraster des sonst so friedlichen Wanderpredigers. Jesus provoziert die Mächtigen und die Gelehrten, stellt eine arme Witwe über den Jerusalemer Jet Set und warnt die Menge vor den Schriftgelehrten, der Intelligenz der Stadt. Das kann nicht gut gehen und das geht auch nicht gut. Die Mächtigen setzen alles ein und wie es endet kann man spätestens am Samstag in der Zeitung lesen. Da haben sie ihn ans Kreuz genagelt und die Menge hat wieder ein Volksfest daraus gemacht. 

«Tötet ihn!» haben sie geschrieen und statt Palmen vor seine Füsse zu legen haben sie vor ihm ausgespuckt. Als Jesus stirbt verdunkelt sich die Welt und vielleicht verstummen da nicht nur die Vögel, sondern auch die Musikkapellen und die Menschen, die sich zum Volksfest versammelt haben. Jedes kleine Menschenkind hält inne und weiss nun, dass es nicht immer laut mit schreien muss, wenn alle schreien. 
Dagmar Doll, Pfarrerin der evangelisch–reformierten Kirchgemeinde Glarus-Riedern

Back To Top