Nächtliche Begegnung

Nacht für Nacht zehn Kilometer: Erwin Brandenberger in Schwanden unterwegs. (Foto: Ruedi Kuchen)

Es gibt – das ist bekannt – sogenannte «Eulen» und «Lerchen». Die einen stehen früh auf, die anderen gehen spät ins Bett. Manchmal begegnen sie sich mitten in der Nacht. Nach Erwin Brandenberger aus Sool könnte man die Uhr richten, wenn er bei jedem Wetter um halb drei Uhr früh über die Linthbrücken in Schwanden marschiert.

Der Schreiber dieses Textes ist eindeutig eine Eule. Das war schon immer so, obwohl seine Eltern vor Jahrzehnten gehofft hatten, die Rekrutenschule werde aus ihm einen Frühaufsteher machen. Nach 2 Uhr morgens aber wird er doch manchmal müde, blickt vom Balkon aus auf das Dorf und wünscht Schwanden gute Nacht. Doch was sieht er praktisch jeden Morgen, um punkt halb drei Uhr: Es nähert sich ein Nachtwanderer. Seine Stirnlampe sieht man von weitem, wenn er der Linth entlang marschiert. Auf den Linthbrücken stellt er die Lampe ab und im Schein der Strassenlaternen erkennt man einen älteren Herrn mit zwei Wanderstöcken, der zielstrebig dem Bahngeleise entlang geht.

Nächtliches Ritual
Die Begegnung mit dem Unbekannten wurde zu einem Ritual. Es konnte geschehen, dass der Nachtmensch ausnahmsweise schon um 2 Uhr ins Bett gehen wollte, sich aber sagte: «Nein, warte noch, bis der Brückenwanderer kommt.» Als sein Sohn zu Besuch war, sagte er zu ihm: «Gleich beginnt mein Ritual: Die Begegnung mit dem nächtlichen Unbekannten!» Manchmal überlegte er sich, dem Altbekannten vom zweiten Stock aus zuzuwinken. Ihm vom Balkon herab laut «guten Morgen» zuzurufen, getraute er sich nicht. Der Wanderer hätte ihm den Vogel zeigen können und die Nachbarn hätten sich über den Nachtlärm beschwert. «Einmal werde ich ihn mit einem Kaffee überraschen», dachte die Eule.

Das mit dem Kaffee liess er bleiben – das Getränk wäre ohnehin zu kalt geworden, bis er unten auf der Strasse gewesen wäre. Dann aber stach ihn doch der Hafer und er wollte wissen, wem er da seit Monaten fast jede Nacht begegnet, ohne zu wissen, wer er ist. Wie aber würde der Unbekannte reagieren, wenn er nachts um halb drei Uhr von einem Fremden angesprochen würde? Würde er einen seiner Stöcke als Verteidigungswaffe einsetzen oder nach der Polizei rufen?

Dreimal angefahren
Erwin Brandenberger aus Sool ertrug den nächtlichen Überfall des FRIDOLIN mit Fassung. Es war ihm in den 20 Jahren, in denen er schon durch die Gegend zieht, ja auch noch nie etwas Unangenehmes passiert. Abgesehen davon, dass er dreimal von einem Radfahrer ohne Licht angefahren wurde. Im Gespräch stellte sich heraus, dass der Nachtwanderer weder eine geborene Lerche noch eine Eule ist. Manchmal ist er vor seinem Nachtmarsch schon aufgestanden, manchmal geht er danach schlafen. Rhythmus und Strecke waren nicht immer dieselben, doch seit längerer Zeit hat er ein festes Programm: Um halb zwei Uhr in der Nacht startet er an seinem Wohnort Sool, marschiert dann hinunter nach Mitlödi, anschliessend südwärts dem Fluss entlang bis zu den Linthbrücken, quer durch Schwanden bis hinauf zum Bahnhof Haslen/Nidfurn; dort kehrt er wieder um. Das «Dessert», wie Brandenberger es nennt, ist am Ende der steile Aufstieg hinauf nach Sool. Ganze zwei Stunden braucht der Mann für die ungefähr 10 km lange Route.

«Operieren oder marschieren!»

Weshalb tut sich der bald 70-Jährige dies an, der vor 40 Jahren «der Liebe wegen» aus dem Kanton Zürich ins Glarnerland gezogen war? Zum einen tut er es gern. Er liebe die Stille der Nacht, ausserdem komme es manchmal zu erfreulichen Begegnungen. Erst kürzlich sei vor ihm ein prächtiger Hirsch aufgetaucht. Am Anfang aber standen gesundheitliche Überlegungen: Wegen einer Diskushernie und anderen Beschwerden kam Brandenberger ins Spital. Dort sagte ihm der Arzt: «Entweder operieren wir, oder Sie machen ein regelmässiges Lauftraining.» Wie geraten, so getan: Seit 20 Jahren zieht er dieses Training durch, und weil sich dadurch seine Rückenmuskulatur stabilisiert hat, brauchte es bis heute keine Operation.

Auf seinem Weg kommt der Nachtwanderer auch an seinem früheren Arbeitsort vorbei, wo er «sein halbes Leben» verbracht habe: der SKS Rehab AG in Schwanden. Hier war der gelernte Konstruktionsschlosser für die Instandstellung und mechanische Verbesserung von Hilfsmitteln für Behinderte zuständig. Heute ist er im Rentenalter, fühlt sich aber mit Haushalt und kleineren Renovationsarbeiten ausgelastet.

In Zukunft winken
Wenn etwas dem Schreibenden klar geworden ist: Man sollte Erwin Brandenberger nicht stören, indem man ihm mitten in der Nacht einen Kaffee anbietet. Er käme dadurch aus seinem durchgetakteten Rhythmus. Aber wir haben vereinbart, dass wir uns in Zukunft zuwinken, wenn wir uns um 2.30 Uhr vom Balkon bzw. von der Brücke aus sehen sollten.

Martin Leutenegger

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