Die Fakten schafft die Natur

In Rüti wird neu automatisch vor Murgängen gewarnt. (Foto: MaRhy)

In seinem Leserbrief in dieser Ausgabe des FRIDOLIN spricht Dr. sc. techn. Hansjakob Schindler, dipl. Bauing. ETH, Rüti, von Alarmismus und davon, dass in Rüti «keine echte Gefahr» bestehe. Da die Bevölkerung bereits vor einem halben Jahr – am 5. November 2020 – informiert wurde, stellen wir hier noch einmal die damals präsentierten Fakten zusammen, damit die Lesenden die Tatsachenbehauptungen des Leserbriefes einordnen können.

Ob nun mit oder ohne Klimawandel – es ist die Natur, welche die Fakten schafft. Das hat sie bei den Überschwemmungen 1987 in Uri, 1993 an der Saltina in Brig, aber auch bei den Überschwemmungen im Glarnerland 1999 und 2005 wie auch bei den Bergstürzen von Bondo von 2011 und 2017 gemacht. So ist es nicht einfach ein Ingenieurbüro, welches entscheidet, die Entscheidung fällt anhand der Fakten, welche in der Natur vorgefunden werden. In Rüti sind die Fakten recht einfach. Im Juli 2020 lagerte ein grosser Felssturz Material in der Erlenrunse ab – und die Gesetze der Schwerkraft sorgen dafür, dass dieses Material nicht oben bleibt. Der Ablauf, dass von der Seite Material in eine Runse bricht und dann vom Wasser weiterbewegt wird, ist im Glarnerland nichts Aussergewöhnliches. Es gibt viele Beispiele im Kanton, wo das so ist, so z.B. am Chilchenstock oder in der Hufenrunse in der Reitimatt. Es gibt solche Ereignisse in engen Tälern, wie etwa im Durnachtal, wo das Material von Bächen eingetragen wird, und es gibt Runsen auf dem Fels, dort bricht das Material von der Seite als Felssturz in die und bleibt dort liegen. Dafür ist die Erlenrunse in Rüti ein typisches Beispiel.

Konkrete Gefahr
In ihrer Medienmitteilung vom 5. November 2020 spricht die Gemeinde Glarus Süd unter dem Titel «Gefährliche Erlenrunse» von ihrem Notfallkonzept und von ihren Schutzmassnahmen. Tatsächlich kann niemand die 50000 bis 55000 m3 Material übersehen, die da im Juli in die Erlenrunse reinfielen. Es war danach die Aufgabe der Gemeinde respektive der zuständigen Runsenkorporation, zu beurteilen: Hat sich die Situation für Mensch und Gebäude verändert oder nicht? Denn die Gemeinde ist grundsätzlich für die Sicherheit ihrer Bürger verantwortlich. Sie und die verantwortliche Körperschaft sind von sich aus verpflichtet, zu prüfen: Hat das einen Einfluss auf die Gefährdung von Menschen oder erheblichen Sachwerten? Dazu wurde ein auf Naturgefahren spezialisierter Ingenieur beigezogen, der das anschaute und beurteilte. Dieser kam bei der Erlenrunse zum Schluss: Es gibt eine Wahrscheinlichkeit, dass seit diesem Felssturz vom Juli 2020 die Murgänge aus der Erlenrunse wesentlich grösser ausfallen werden als in den vergangenen 20 bis 30 Jahren.

Die drei Beurteilungsansätze
Doch wie gross sind diese Wahrscheinlichkeiten? Das ist der entscheidende Punkt. Da gibt es die Ersteinschätzung des Ingenieurs und danach zieht man weitere Fachleute bei. Im Fall von Rüti zog man einen Geologen sowie die Fachleute des Kantons bei – sowie den schweizweit anerkannten Murgangspezialisten Dr. Christian Tognacca, welcher alle Szenarien auch noch anschaute. Die geschah zuerst aus rein physikalischer Sicht. Da geht es um die Neigung im Gelände, die Art des abgebrochenen Materials, seine Zusammensetzung und den möglichen Zeitpunkt, wann dieses Material kommen könnte. Es ist klar, dass es dazu Wasser braucht, doch wie fällt dieses Wasser an? Schneeschmelze, lange andauernde Starkniederschläge, Gewitter? Die Annäherung geschieht in Szenarien – und eines dieser Szenarien sagt klar: Wenn es länger intensiv regnet, ist das gesamte Volumen von 55000 m3 mobilisierbar, es könnte also alles auf einmal kommen. Zum Vergleich: Durchschnittlich gab es an der Erlenrunse bis jetzt alle acht Jahre ein Ereignis mit 1000 bis 3000 m3.

Eine weitere wissenschaftliche Überlegung befasst sich mit der Verteilung des Geschiebes im Tal. Gibt es Ausbrüche? Wenn ja, gehen die nach links, nach rechts oder kommt das Material gerade herunter? Hier werden Modellierungen durchgeführt, d.h. es werden Ereignisbäume gemacht und diesen werden Wahrscheinlichkeiten zugeordnet. Es gibt eine bestimmte Wahrscheinlichkeit, dass die Erlenrunse nach links in die Huob ausbrechen wird. Geschieht dies, so kann es dort Tote geben und Häuser werden zerstört. Insgesamt wurden die Fakten in der Natur bei der Erlenrunse von drei unabhängigen Unternehmen untersucht und gewichtet, welche fast zum selben Ergebnis kamen – nämlich, dass die Erlenrunse ein gefährlicher Wildbach ist und sich das angesammelte Material je nach Ausbruch auf dem gesamten Schuttkegel verteilen kann. Deshalb sind in Rüti bei Murgängen mit starker Intensität die Verkehrswege (Schiene, Umfahrungsstrasse, Dorfstrasse) und Häuser gefährdet.

Neben der physikalischen Untersuchung und Modellierung zeigte der Blick auf die Geschichte der Runse, dass seit 1914 mindestens 15 Ereignisse dokumentiert, die teilweise zu grösseren Schäden führten. So ist auch aus dieser Sicht die Wahrscheinlichkeit relativ hoch, dass das lose Material – die 50000 bis 55000 Kubikmeter, die oben liegen – auch runterkommt. Der Schuttkegel, der sich im Gelände gebildet hat, zeigt, dass es immer wieder Ausbrüche gab. Zudem wurden Naturgefahren in den letzten 30 Jahren eher unter- als überschätzt. Doch wenn man bedenkt, dass die SBB sich schon beim Bau der Linie nach Linthal an dieser Stelle für einen Tunnel entschied und dass man schon ab 1900 hinaufstieg, um die Runse mit Sperrentreppen zu verbauen, so sieht man, dass frühere Generationen die Gefahr sehr wohl kannten und etwas dagegen taten. Murgänge gab es wohl in den letzten Jahrhunderten öfter, nur standen da noch keine Häuser in der Huob.

Neubeurteilung der Naturgefahren
Vor Juni 2020 war das Quartier Huob in Rüti nicht als rote oder blaue Zone auf der Karte vermerkt, sondern als gelbes Gebiet. Das deshalb, weil noch nicht soviel Material in der Runse lag. Gesamtschweizerisch wurde im Bauboom der 1960er und 1970er Jahre den Naturgefahren bei der Einzonung von Wohngebieten zu wenig Beachtung geschenkt. Das änderte sich mit den Hochwassern von 1987, 1993, 1999 und 2005. In Rüti wurde nun eine Murgangwarnanlage gebaut, welche mit Erschütterungssensoren in der Runse misst, wenn Gefahr im Verzug ist und danach automatisiert davor warnt. Sie wird derzeit getestet. Anschliessend sollen auch Schutzbauten – also Dämme und Geschieberückhalteräume – gebaut werden. Danach kann die Gefahrenkarte so revidiert werden, dass die Gebäude und Verkehrsinfrastrukturen in Rüti wieder aus der roten Zone herauskommen.

FJ

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