Die erste Glarus Pride findet diesen Samstag statt, ein Anlass, der das Queer-sein feiert. Nichts verstanden? Autorin Christina Caprez und der 95-jährige Schwulenaktivist Ernst Ostertag klären auf. Beide sind in Glarus mit dabei.
Seltsam, wunderlich, eigenartig – bedeutet das englische Wort «queer». Dabei heisst es viel mehr als das. Queer-sein heisst, sich ausserhalb der klassischen sexuellen Orientierungen und Geschlechtsidentitäten zu bewegen. Das feiert die erste Glarus Pride diesen Samstag im Güterschuppen. Willkommen sind alle, ob inner- oder ausserhalb der Normen. Die Pride sei aus purer Lust entstanden, erzählt Werner Kälin aus dem OK, aber auch, um einmal «ein anderes Glarus» zu zeigen. Der Fokus liege «auf dem Sichtbarmachen des Queer-seins. Denn was es ‹nicht gibt›, wird nicht geschützt.»
Bahnbrechende Überlegungen
Als das Thema Pride in Glarus – wie sie es seit 60 Jahren in der ganzen Welt gibt – bei Eva-Maria Kreis, Kaj Weibel und Leana Meier aufkam, beschäftigte sich Werner Kälin gerade mit dem violetten Geburtshaus von Heinrich Hössli in Glarus. Hössli war Hutmacher, Modedesigner, lebte getrennt von seiner Frau und seinen zwei Söhnen. Einer tauschte sich über seine Homosexualität per Brief mit seinem Vater aus. Geboren 1784, war für Hössli die Hexenverfolgung noch sehr nahe, Ähnliches hatten schwule Männer zu fürchten. Trotzdem erklärte er 1836 – als erster europaweit – Homosexualität als naturgegeben. 12 Jahre Recherche steckte er in «Eros, die Männerliebe der Griechen», doch das 700-Seiten-Werk wurde vom Sittengericht verboten. «Bahnbrechende Überlegungen», ordnet Ernst Ostertag Hösslis Werk ein. Er selber ist in der Heinrich Hössli-Stiftung tätig, die 2009 das Schwulenarchiv Schweiz gründete und am Samstag in Glarus ihre GV abhält.
Ausleben nur im «Kreis»
Ernst Ostertag war gerade 12 Jahre alt, als 1942 homosexuelle Handlungen in der Schweiz legal wurden. Sexuelle Fragen aber blieben tabu. Ostertag merkte früh, dass er auf Jungs stand und wusste: «Das darf niemand erfahren. Ich litt nicht darunter, für mich war klar: Das gehört zu mir, das lässt sich nicht ändern. Ich bin anders.» Erst als 23-Jähriger kam er in Zürich mit anderen Schwulen in Kontakt und lernte die Untergrundorganisation «Der Kreis» kennen. Kontakte ins Glarnerland bestehen durch seinen heutigen Partner Giovanni Lanni, der ursprünglich aus Luchsingen kommt. Am Samstag wird Ernst Ostertag in Glarus eine kurze Ansprache halten – als Anmoderation zu Christina Caprez, die aus ihrem Buch «Queer Kids» liest. Ostertag verrät schon mal: «Die Natur ist vielfältig und soll so gelebt werden dürfen, solange die Würde eines Nächsten nicht verletzt wird. Es ist wichtig, dass junge queere Menschen sich uneingeschränkt äussern können, wie sie es in diesem Buch tun.» Was die Autorin damit erschaffen habe, sei eine «unglaublich wichtige Sache für uns alle.»
Früh nachdenken über sich selbst
Eigentlich hat die Soziologin Christina Caprez (48) das Buch für Angehörige und Lehrpersonen geschrieben, die unsicher sind im Umgang mit einem queeren Kind. Weil sie die 15 Porträts in der Ich-Form aus der Perspektive der Kids schrieb, wird es auch von Jugendlichen gelesen. Eine junge Glarnerin hat sich via WhatsApp bei Caprez gemeldet. Im Leitsatz erzählt die 13-jährige Hanna, wie sie vom Buch bestärkt wurde, ihre Idee eines Queer-Treffs zu verfolgen. Auf dem Land sei es schwieriger, Vorbilder und Gleichgesinnte zu finden, bestätigt Caprez. Zusätzlich zur Pubertät seien viele Mobbing oder einem «Minderheiten-Stress» ausgeliefert, ausgelöst durch die Unsicherheit, wie ihr Coming-out angenommen wird. Aber sie weiss: «Queere Jugendliche sind viel früher gezwungen, über sich nachzudenken, und machen dadurch früher einen Reifungsprozess durch.»
Kein Laufgitter-Denken
«Ein Coming-out braucht zuerst ein Going-in – ein Ankommen bei sich selbst. Erst wenn man sich selbst annehmen kann als das, was man ist oder fühlt, wird ein Nach-draussen-gehen möglich», erklärt Ernst Ostertag. Der damals 70-Jährige liess seine Partnerschaft als erster in der Schweiz eintragen, als dies 2003 in Zürich legal wurde. Er weiss: «Laufgitter-Denken – das haben wir nicht. Wir sind viel freier. Und das muss man auch entsprechend leben.» Genau das tut die erste Glarus Pride: mit dem Schwulenchor schmaz, einer Dragqueen Show und einer queeren Stadtführung. Mit der Glarus Pride beginnt die Sammlung für das Heinrich Hössli-Hause, das seit kurzem zum Verkauf steht. Werner Kälin will daraus einen Treffpunkt der queeren Community machen.
Delia Landolt