2000 Kilometer zu Fuss durch den Wilden Westen

Im gemässtigen Regenwald im Olympic Nationalpark ist einfaches Durchkommen nicht garantiert. (Foto: Delia Landolt)

«Macht einfach immer weiter!», rief uns die Weitwanderin zum Abschied zu. «Womit?», antwortete ich, wissend, was kommen wird. «Einen Fuss vor den anderen zu setzten», lachte die ältere Frau. Und weg war sie. Natürlich blieb uns nichts anderes übrig. Wir steckten mitten im Wilden Westen. Es ist das Sommer-Abenteuer von zwei Niederurnerinnen und einem Mailänder, die zusammen die 2000 Kilometer des Pacific Northwest Trails entdeckten.

Cape Alava. Das war unser Ziel am Pazifischen Ozean. Alle vier bis zehn Tage kamen wir in ein Dörfchen, assen eine schlechte Pizza, verloren uns im Supermarkt und verweilten in Waschsalons. Ich bin diesen Sommer auf dem Pacific Northwest-Trail vom Glacier Nationalpark in Montana immer westwärts durchs kartoffelbepflanzte Idaho und schliesslich an die wilde pazifische Küste Washingtons gelaufen. Wenn ich behaupte, ich wandere nicht gerne, werde ich oft schräg angeguckt. Mittlerweile habe ich wohl meine Glaubwürdigkeit verloren. Verständlich.

Im Land der Pickup-Trucks
Letztes Jahr war das Nordkap das Ziel. Dort trafen Nicole Steinmann und ich, Delia Landolt – beide in Niederurnen aufgewachsen und im Musikverein gross geworden – nach 40 Wandertagen auf Fabrizio Colombo, einen Mailänder. Und weil die Sippe Kolumbus’ bekanntlich erfahrene Reisende sind, nahmen wir unseren neuen Freund mit auf ein zweites Abenteuer. Diesem Sommer wollten wir nochmals einen Schritt weiter gehen…oder zwei. 2000 Kilometer durch Amerika. Wohl nirgendwo sonst gibt es so eine grosse Community rund ums Weitwandern. Klar ist diese Art des Reisens auch im Land der Pickup Trucks eine Nische. Und der Pacific Northwest Trail gehört definitiv nicht zu den beliebtesten Weitwander-Routen der USA: Oft fehlen Wanderwege, man läuft entweder auf dem Highway, auf Forststrassen, oder man muss sich durchs Gebüsch kämpfen. Dazu haben Markierungen mehr eine dekorative, statt einer wegweisenden Funktion.

Die Freiheit auf dem Rücken
Weitwandern ist eben nicht gleich wandern. Man geht nicht der schönen Aussicht wegen. Das Ziel ist nicht ein Gipfel, keine Hütte, man hat kein frisch gestrichenes «Iigchlämmts» dabei. Das Ziel ist verdammt weit weg, anfangs mehr eine Idee, denn es zu erreichen ist keine Selbstverständlichkeit. Im Rucksack verstaut ist der Hausrat mit Zelt und allem, was dazugehört, wie Wasserfilter und Satellitentelefon. Und ein Netz für über den Kopf: «Die Mücken fressen uns mehr als wir zu Mittag», schrieb ich in mein Tagebuch. Das Netz hat mich einige Male vor dem Wahnsinn bewahrt. Der wenige Platz, der im Rucksack bleibt, wird mit Essen gefüllt. Chinesische Nudeln. Kartoffelstock. Haferflocken mit Milchpulver. Erdnussbutter. Schokolade. Snickers. Je mehr Kalorien pro Gramm, desto besser. Das heisst in Amerika: Diabetes scheint immer irgendwo hinter einer Ecke zu lauern.

Dieser dicke Rucksack enthält die komplette Unabhängigkeit, die totale Freiheit. Das ist es, weshalb ich weitwandere. Nicole sagte immer wieder: «Ich habe heute keine Termine mehr, und du?» Wir können jeden Tag über dieselben Witze lachen wie schon am vorherigen. Uns krümmen, weil wir uns mit der verbliebenen Energie schon wieder beim Zeltaufstellen verzettelten.

Der wilde Nordwesten
Der Pacific Northwest-Trail führt durch Grizzly- und Schwarzbären-Territorium. Mit Bären-Spray ausgerüstet kein Problem. Eine Attacke erlebte ich glücklicherweise nur im Traum, aus dem ich schreiend aufwachte. Gleichzeitig ist man praktisch immer auf Stammesgebiet von Native Americans unterwegs. Angefangen mit den Blackfeet bis zu den Quileuten am Pazifischen Ozean. Von ihnen kommt die Legende von Sasquatch, der mysteriösen, im Wald lebenden und haarigen Kreatur. Auch bekannt als Bigfoot. Er ist überall. Als Souvenir. Als Festival. Als Geschichten, die wieder und wieder erzählt werden. Sasquatch gibt es, seit es die Native Americans gibt. Er ist älter als die Goldwäscher, die das Wesen von so vielen Dörfern prägen. Älter als die Cowboys, die noch heute – wohl für touristische Zwecke – auf ihren schwer beladenen Pferden über den Trail traben.

Buddeln fürs Geschäft
Gestartet im Glacier Nationalpark wurden wir richtig verwöhnt. Wilde Flüsse, imposante Berg-Konstrukte, türkise Seen. Nach diesem Naturspektakel war erst einmal alles öde. Das Paradies verlassen, mussten wir selbst geeignete Campspots mit Wasser finden, ein Loch fürs Geschäft buddeln, einen geeigneten Ast suchen, um das Essen bärensicher aufzuhängen. Im Nationalpark erhält man gegen eine Bewilligung und Camp-Reservation all diese Annehmlichkeiten. Nun warteten erst einmal viele Forststrassen.

Immerhin sprangen zwei Berglöwen vor uns über die Strasse – eine Seltenheit. Mit Nicole in unserer Gruppe verpassten wir kein Lebewesen. Sie hat den Scan-Blick. Sie sah die Bärin, deren zwei Babys auf die Bäume kraxelten, unterschied Fisch- von Weisskopfseeadler. Und sie lief voraus, wenn uns gerade schon zwei Klapperschlangen angerasselt hatten.

Pancakes, Popcorn und ein türkisblauer Cadillac
Fabrizio hatte die Planung unter sich. Er hatte die Karten studiert und in Tagesetappen eingeteilt. Ich quatsche die Leute an. Fragte im Motel nach einem Zimmer, verlangte Bier, wenn Sodas angeboten werden, organisierte eine Mitfahrgelegenheit.

Oft aber mussten wir nicht fragen – das Gute passierte einfach: Camping-Chefin Ann liess uns in ihrem Wohnwagen schlafen und backte Pancakes zum Frühstück. Ein Bäckerei-Paar tischte uns nach Ladenschluss Salat, Poulet und Polenta-Kuchen auf. Marc fuhr uns auf einer Spritztour in seinem türkisblauen Cadillac von 1955 in den Sonnenuntergang. Cindy und Nick, die gerade ihre Hochzeitsnacht in einem alten Feuer-Wachturm verbracht hatten, kochten uns Kaffee und gaben uns eine King-Size Popcorn-Packung mit. Goldwäscher Darren schmiss für uns den Grill an, als er erfuhr, dass wir gerade die erste Hälfte unserer Wanderung geschafft hatten. In einer Kirche im Nirgendwo bekamen wir Asyl und Fabrizio haute den ganzen Abend in die Tasten, bis er unter dem Piano einschlief. Der beste Tag auf dem Trail eines Klavierlehrers.

Weg-Engel und Trailmagie
So viel Freundlichkeit, so viel Enthusiasmus, so viel Herzlichkeit kam uns obdachlosen, stinkenden Wandernden entgegen. Vieles waren offizielle «Trailangel», Leute, die nahe beim Trail wohnen und Wandernde in jeglicher Form unterstützen. Manchmal riefen wir bei ihnen an, manchmal lasen sie uns auf dem Trail auf. Einige sind selbst weitgewandert, andere suchen einfach den Austausch, viele tun es für die Gemeinschaft. Und wo es Trailangels gibt, gibt es auch Trailmagic. Immer dann, wenn sich eine Blase über einer Blase bildet, man keinen Bock, keine Energie mehr hat, passiert etwas Wunderliches. Das kann ein Schattenplatz sein. Ein Wasser-Rinnsal. Eine Pickup-Ladefläche, auf der wir ins nächste Dorf mitreiten durften. Oder gute Gesellschaft. So trafen wir gegen Ende des Abenteuers Elliot, einen wahnsinnig begeisterungsfähigen Amerikaner. Wenn er sagte, «Leute, das ist der beste Tag meines Lebens!», kam es aus tiefstem Herzen. Zwei Tage später stiess noch der Engländer Ben zu uns, der seine Wanderung in Mexiko gestartet hatte. Seine britischen Standard-Höflichkeitsfloskeln verblassten bald neben seinen spitzen, sarkastischen Kommentaren.

Beeren auf Mundhöhe
Getrieben von der neuen, aufregenden Dynamik traten wir zusammen den Olympic National Park an. Jetzt ging es nochmals richtig in die Berge. Von weit oben blickten wir zurück, von wo wir kamen. Und tauchten ab in grünsten Regenwald, wo giftig glänzende Pilze den Weg säumten. Leuchtend gelbe, manchmal getigerte Bananenschnecken klebten daran. Pralle Huckleberries auf Mundhöhe erschwerten das Vorankommen erheblich. Als wir dann nach 69 Tagen die Pazifische Küste erreichten, wurde das Glück wie das Wasser mit der Flut angeschwemmt. Seesterne, Anemonen und eine Otterfamilie zeigten sich, als wir im Takt der Gezeiten das Ziel ansteuerten, begleitet von Wellen, Dunst und phosphoreszierendem Moos. Wir hatten je eine Zigarre und eine Büchse Bier dabei, um in Cape Alava anzustossen und uns dabei fest zu drücken. 74 Tage gehen, 74 Tage zu zweit im selben Zelt schlafen, 74 Tage Freude über ein Bad im Bergsee teilen, genauso wie den Frust über eine weitere Blase am Zeh. «Füsse sagen Feierabend», schrieb ich mal in mein Tagebuch, bin aber froh, weitergegangen zu sein. Immer einen Schritt vor den anderen setzend. 

Delia Landolt

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