Glarner Tuchikone

Jonas Weber und Prof. Daniel Aebli – ein Gespräch über Ansichten zur Schönheit. (Foto: zvg)

An diesem Sonntagmorgen im Oktober schenkt der emeritierte Ennendaner Professor Daniel Aebli Interessierten spannende Zugänge in die vergessene Epoche des Glarner Tuchdrucks. Als Kunstliebhaber aus der Generation der Enkel versuche ich – im Austausch mit der Koryphäe – einen gemeinsamen Nenner für einen Kunstbegriff zu finden. 

Im Comptoir «Daniel Jenny» Ennenda – im oberen Geschoss der «Baumwollblüte» – sind Zeugnisse zum Tuchdruck ausgestellt. Professor Aebli hat die Tuch-Manufaktur in drei Bänden aufgearbeitet – doch für mich war er zuerst einfach ein Nachbar. Herr Aebli und ich wohnten drei Jahre lang Tür an Tür. Dann zog ich nach Sool, unser gut geführte Dialog wurde still, bis ich vom Kunstprofi ins Comptoir eingeladen wurde, um die Bürowelt des 19. Jahrhunderts zu entdecken. Das «Glarner Tüechli» mit dem Palmettensujet «Paisley», wer kennt es nicht? Seine Geschichte wird sowohl im Freulerpalast wie auch im Wirtschaftsarchiv in Schwanden wissenschaftlich rekonstruiert, wobei es sowohl um wirtschaftliche wie technische Faktoren der Tuchkunst geht.

Kunstschatz enthüllen
Daniel Aebli aber geht es darum, als Forscher den Kunstschatz dieser Tücher zu heben. Der approbierte Kunstkenner durfte vor 15 Jahren die Arbeit von Antoinette Rast Eicher in weiterführendem Sinne annehmen. Über Freunde gewann er eine vertiefte Einsicht ins Comptoir «Daniel Jenny» und die «Baumwollblüte». Seine Fragestellung: Was haben uns diese Tücher heute zu sagen? Die Antwort ist wissenschaftliche Pionierarbeit. Nicht nur erfuhr der pensionierte Professor an zwei Tagungen, dass im 19. Jahrhundert auch das Elsass, also Mulhouse, auf Textildruck konzentriert war, und dass dort ebenfalls kunstgeschichtliche Forschungen dazu vorliegen. Nein, er verfasste selbst 2011, 2018 und 2024 drei Bände zum Glarner Tuch als Vertreter von ästhetischen Basiselementen. Eine Auswahl davon nennt er im jüngsten Band «faszinierende klassische Bildtücher». Es gelte, sie als Bestandteil der europäischen Kunstgeschichte zu erkennen. Und so schenkte mir mein Besuch fundierte Einsichten in die Ikonografie der Glarner Textil-Tradition.

Einblicke in die Fertigung
Geschaffen wurden die Motive auf den Tüchern durch Dessinateurs. Diese kunstaffinen Arbeiter bedruckten die Oberfläche der Tücher mit beliebten, aber konventionellen Motiven – während zur selben Zeit im Kunstbetrieb geniale Maler wie Eugène Delacroix oder Caspar David Friedrich in Abwendung von der Klassik die romantische Bildphilosophie in ihren Werken umsetzten. Sie fanden dabei gefühlsbetonte Zugänge zur Vereinigung mit der Innenwelt. Im Sinn des universellen romantischen Stilbegriffs fanden aber – neben klassischen – auch orientalistische Motive den Weg auf die Tücher. Dabei wurden stilistische Formtypen aus einer fernen Kulturheimat übernommen – so auch das Palmettenblatt «Paisley» welches den Orient versinnbildlicht. Daneben, so Aebli, seien aber eben auch klassische Strukturen auf den Tüchern ikonisch geworden.

Schönheit als Gestalt meiner Gegenwart
Doch wie kann es mir gelingen, die Schönheit dieser Motive zu erkennen, wie tauchen diese «ewigen» Muster in meine Gegenwart ein? Schönheit ist, landläufig gesprochen, nicht ein Inhalt, sondern eher eine unbeschaffene Wirklichkeit. Die Schönheit existiert nicht auf einen bestimmten Horizont hin – während das Glas nicht bloss schön, sondern auch nützlich ist, bis es zerbricht. Laut dem Architekten Adolf Loos (1870-1933) ist Schönheit frei von jeder Nutzbarkeit. Für uns ist das heute allerdings befremdlich, weil wir zielgerichtet – also utilitaristisch – denken. Form muss der Funktion folgen, Ornamente braucht es nicht. Doch ist nicht die Form, wie wir uns etwas nutzbar machen wollen, selbst eine Illusion? Daniel Aebli will mir Kunst so vermitteln, dass ich sie – in meiner Gegenwart – als freie Form der Schönheit miterlebe. Und er stellt das in einen historischen Kontext. Die Firmenbezeichnung «Daniel Jenny» datiert erst ab 1902. Bartholomé Jenny war zu Gründungszeiten Namensgeber einer Handelsagentur. Erst schrittweise nahm die Firma durch die Tätigkeit in den Bereichen Druck, Weberei und Textilanfertigung ihre heute geläufige Form an. Zu meinem Erstaunen scheint die ästhetische Toleranz damals deutlich ausgeprägter gewesen zu sein. Die Tücher damals zeigten Motive wie die indo-britische Elefantenartillerie – unvorstellbar, dass wir heute noch Kriegshandlungen aus aktuellen Konflikten auf Tücher drucken.

Bauhaus
Der radikale Bruch mit dem 19. Jahrhundert nimmt in der Bauhaus-Bewegung 1919 ihren Anfang. Bauhaus lehnt Ornamente wie das Glarner Paisley-Muster ab, Adolf Loos etwa sieht in Ornamenten keine sinnstiftende Anwendung. Zudem wird das Geschichtliche überhaupt zum Feindbild, während sich vorangegangene Epochen an historischen Vorbildern orientierten. Für Professor Aebli macht sich die moderne Kultur – die vom Bauhaus ausgeht – damit unfrei, weil sie damit auch die alten Werte nicht mehr transportieren kann. Auch wenn das – sozusagen – weit über meinen Erkenntnishorizont hinausgeht, nimmt sich der Professor meiner an, ich kann im Bewusstsein meiner selbst neue Bezüge aufdecken. Er ist bald 80 Jahre alt, ich bin 25. Doch überraschenderweise erfreut der Dialog mit mir auch ihn: «Die Jugend geht an solche Begegnungen äusserst unverstellt heran, im Gegensatz zu älteren Generationen.» Nun bin ich zwar kaum die Ikone meiner Zeit, doch nehme ich das Kompliment gerne für mich und die Nachkommenden an. l

Jonas Weber

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