«Mitten im Leben sind wir vom Tod umgeben.» So beginnt ein gregorianischer Choral, der wohl aus dem 8. Jahrhundert nach Christus stammt. Ein gefährlicher Gesang! Lange verstand man ihn auch als Beschwörung oder gar als Verwünschung. Kein Wunder, dass 1316 die Synode von Köln seine Aufführung ohne Erlaubnis eines Bischofs ausdrücklich verbot – insbesondere, wenn er sich gegen lebende Menschen richtete.
Media vitae in morte sumus! Diese Feststellung wird gern dem Benediktinermönch Notker von St. Gallen zugeschrieben, der sie der Legende nach machte, als er Arbeitern beim Bau einer Brücke über einen Abgrund zusah: Es wird ihm den Atem genommen haben, zu beobachten, wie schmal der Grat zwischen sicherem Arbeiten auf dem Gerüst und dem vielleicht durch eine momentane Unachtsamkeit verursachten Sturz in die Tiefe war.
Dieses Wort und das Bild treffen uns. Die allermeisten Tode sind zufällig, unzeitig, unverdient, viel zu früh. Vielen Menschen ist heutzutage das Thema Tod so unangenehm, dass sie fast hysterisch alles abwehren, was damit zu tun hat. Anonymes Sterben im Krankenhaus ohne Familie, anonyme Bestattungen ohne Abschiednehmen durch Verwandte und Freunde, Verdunstung der Erinnerung an Verstorbene sind Zeichen unserer Zeit.
Die Frage nach dem Sinn des Todes ist immer auch eine Frage nach dem Sinn des Lebens. Deshalb stellt sich diese Frage früher oder später jedem Menschen: Gläubigen oder Nicht-Gläubigen, Jungen oder Alten, Reichen oder Armen. Die Frage nach dem Sinn des Todes ist immer noch dieselbe, nur die Antworten können unterschiedlich ausfallen. Für die einen mag es Rebellion, Flucht, Verzweiflung und Nichts bedeuten, für die anderen, vor allem für die Gläubigen, Hoffnung und Glaube an das ewige Leben, das der Beginn von Unsterblichkeit, Ewigkeit und Erlösung ist.
Deshalb gehen wir an Allerheiligen und Allerseelen auf den Friedhof, zu den Gräbern derer, die einst unter uns lebten und denen wir vielleicht viel zu verdanken haben, die Gräber unserer Grosseltern, Eltern, Ehepartner, Freunde oder Verwandten, vielleicht auch die unserer eigenen Kinder? Alle sind gleichermassen von Mutter Erde umarmt.
Wir wollen in Novembertagen zusammen sein: die Toten und die Lebenden – wir wollen das, weil wir glauben, dass wir uns eines Tages nur als Lebende begegnen – im ewigen Leben.
Wir bringen dies zum Ausdruck, indem wir an den Gräbern unserer lieben Verstorbenen beten, Kerzen anzünden, Blumensträusse niederlegen und anwesend sind. Wir tun dies nicht nur als Ausdruck unserer christlichen Tradition, sondern ich denke, vor allem als Ausdruck unserer gemeinsamen Dankbarkeit gegenüber denen, die einst unter uns lebten.
«Gott, du hast einen lieben Menschen zu dir genommen. Wir sind ein Stück unseres Lebens miteinander gegangen. Wir haben vieles miteinander geteilt, Freud und Leid, frohe und schwere Stunden. Es war schön, wenn es auch nicht immer leicht war. Dafür danke ich dir. Lohne ihr/ihm alle Liebe und Treue mit ewiger Freude, mir aber gib Kraft zu sagen: dein Wille geschehe, auch wenn dein Weg unbegreiflich ist. Und lass uns im Himmel mit dir vereint sein. Herr, gib allen Verstorbenen die ewige Ruhe, und das ewige Licht leuchte ihnen. Herr, lass sie ruhen in Frieden. Amen.»
Pfarrer Daniel Prokop
Seelsorgeraum Glarus Süd