Drei Tage und 14 Minuten nach dem letzten Sonnenereignis und kurz vor dem Alpchäs- und Schabzigermärt veränderte sich die Elmer Welt der Tschingelhörner für immer. Am 3. Oktober um 09.46 Uhr brachen vom Grossen Tschingelhorn rund 100 000 Kubikmeter Fels ab. Doch wie geht die Sagenwelt mit solchen Ereignissen um? Wir gehen mit Sagenerzählerin Anni Brühwiler dieser Frage nach, denn gerade ist der neue Fridolin-Sagenkalender erschienen.
«Wo hüt dr Sardonagletscher liit, isch früener de schünscht Alp vum ganze Chliital gsii.» So beginnt die Elmer Sage «Eebig verfluecht». Anni Brühwiler erzählt sie noch heute, obwohl es den Sardonagletscher nicht mehr gibt.
Der stille Felssturz
Anni wohnt mitten in Elm, den Felssturz bekam sie – wie wohl fast alle – erst am Wochenende drauf mit. «Es war schlechtes Wetter. Erst mit dem Chäsmärt und seinen vielen Besuchern wurde das Wetter gut. Da steht man draussen, erzählt den Leuten vom Weltkulturerbe Sardona und vom Elmer Bergsturz. An diesem Tag herrschte diffuses Licht, doch die Sonne schien und ich fragte mich: Ist das jetzt die Beleuchtung, sind das die Schneefelder? Das Grosse Tschingelhorn sah anders aus – es war schmaler und steiler geworden. Aber dass es so einen gewaltigen Felssturz gegeben hatte, auf diese Idee kam ich nicht.» Am Tag darauf gingen die ersten Fotos rum – doch es dauerte, bis die ersten Fernsehmeldungen kamen. «Ich fragte mich, wie das bei einem weltweit bekannten Erbe wie den Tschingelhörnern so lange unbemerkt blieb. Aber es gab keine Hochtouren über den Segnes, die Tschinglen-Wirtschaft wäre zwar offen gewesen, aber den Bergsturz hat wohl niemand gehört.»
Das Einordnen
«Erst dachte ich: Das ist nicht schön, der abgebrochene Berg, aber man gewöhnt sich dran, findet sich ab. Es wird befürchtet, dass noch mehr kommt, dass auch das Martinsloch grösser werden könnte oder – bei diesen klimatischen Verhältnissen – zusammenfällt. Die Bündner machen da schon lange keine Führungen mehr, da es schon mehrmals Abbrüche gab. Manchmal fragen die Besucher uns, ist es da gefährlich, kommen viele Steine? Jetzt ist das Loch fast so gross wie der Kirchturm, in 50 Jahren passt der Turm vielleicht ganz rein.» So wird die Wirklichkeit in die Sagen integriert. Bei der Sage vom Martinsloch flechte sie jeweils ein: «Als Martin abends seinen Stock vermisste, stieg er wieder hinauf und fand ihn. Dort, wo er ihn mit grosser Kraft aus dem Felsen riss, sprudelte das Elmer Mineral hervor.» Man sieht: Erzähler dürfen die Sage der modernen Wirklichkeit anpassen, und sie werden das – in Sachen Felssturz am Grossen Tschingelhorn – auch tun.
Der neue Sagenkalender
Doch wie ist das mit dem Erfinden von ganz neuen Sagen? «Sagen schildern Naturphänomene und Ereignisse. Die Menschen beobachteten schon in früher Zeit Felsstürze, konnten es aber nicht geologisch erklären.» So entstanden und entstehen Sagen aus dem Unerklärlichen. «Aus meiner Sicht beschreiben Sagen, wie Menschen mit Tieren, mit sich selbst, mit der Natur umgehen.» Für ihr Handeln werden sie dann belohnt oder bestraft. Auch in den neuen Sagen vom Fridolin-Kalender 2025 – sei es «Dr verschwundni Pfaad» von Oberurnen oder «Ds Geischter-Hotel» am Elmer Höhenweg. Historische Siedlungen – etwa «Ds Italiänerdöörffli» im Klöntal – werden genauso Teil der neuen Glarner Sagenwelt wie «Dr Sündächreisel» von Netstal. Heutige Sünder bekommen ihre Strafe, wie das schon früher geschah. Der Brand der Venus vom Bahnhofbüffet, das Überhandnehmen der Laubbläser, der zerstörte Fahrtsgedenkstein, die Handyverblödung – solche und weitere Sagenmotive werden die Kalenderleser/-innen 2025 finden. In der Küche in Elm diskutieren Heinz und Anni derzeit beim Blick auf die grösser gewordene Lücke, man könnte dort eine Zwischenstation für die Bahn nach Flims hinstellen. Eine Idee für die Zukunft der Bergbahnen oder eine neue Sage oder beides? Wer weiss. Der Mensch mit seinen Plänen und Ängsten sucht Schuldige und Rechtfertigungen. «Aber wenn das Tschingelhorn abbricht, ist daran niemand schuld.» Und doch gibt es die reale Angst. «Jene, die auf den Inseln oder am Ufer wohnen, schauen gebannt auf den Meeresspiegel, bei uns schauen wir hinauf zu den Bergen. Gestern beim Wandern auf dem Elmer Höhenweg ging mir oft durch den Kopf: man ist fast nirgends mehr sicher – auch auf harmlosen Wanderwegen.»
FJ
Der Fridolin-Sagenkalender 2025 kostet 37 Franken und kann ab sofort über den QR-Code auf der Homepage bestellt werden oder auch schriftlich bei Fridolin Druck und Medien AG, Rathausgasse 22, 8750 Glarus,