Vom Strafgericht auf die Kanzel

Marie-Ursula Kind unterwegs für den Menschen im christlichen Glauben. Für ihr Statement zum Glauben QR-Code scannen. (Foto: Juliane Bilges)

Pfarrerin werden war ihr Jugendtraum. Nach der Matura überlegte Marie-Ursula Kind, Theologie zu studieren, fühlte sich dieser Aufgabe aber noch nicht gewachsen – und entschied sich für ein Jurastudium. Nach ihrer Zeit als international tätige Anwältin wagte Kind den Quereinstieg ins Pfarramt.

Juristik ist ein Handwerk, das man in verschiedensten Lebenssituationen gebrauchen kann. Ursula-Maria Kind wollte von Anfang an keine Wirtschaftsanwältin oder Ähnliches werden, doch Menschenrechte interessierten sie schon während des Studiums. Nach ihrem Abschluss arbeitete sie am Lehrstuhl für Völkerrecht und Staatsrecht der Universität Zürich und widmete sich auch in den Folgejahren den Menschenrechten – am internationalen Strafgericht für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag. Zehn Jahre lang wirkte sie dort bei der Aufarbeitung von Kriegsverbrechen mit.

Herausforderungen
Beweisketten und Kommandostrukturen – alles musste bis in Detail herausgearbeitet werden. Die Sichtung des Beweismaterials am Strafgericht, das Klären der Sachverhalte, Interviews mit Zeugen, vor allem mit betroffenen Zeugen waren riesige Aufgaben. Der Anspruch des Tribunals: alle Beweismittel sollten im Gericht Gehör finden. Kind empfand das Hineinwachsen in diese juristische Arbeit und Argumentationsführung als Herausforderung. Noch schwieriger zu verarbeiten waren die Abgründe; zu sehen, was Menschen anderen Menschen angetan hatten, wie sie sich in den vermeintlich rechtsfreien Räumen, die ja aber auch nicht rechtsfrei waren, verhielten. Diese Erfahrung erschütterte die Grundfesten ihres Menschenverständnisses und gab ihr sehr zu denken. Aktiv daran mitzuwirken, dass wirklich einigen Menschen Gerechtigkeit zurückgegeben werden konnte, half ihr sehr im Umgang mit den Gräueltaten.

Glaube
Ein schönes Gegengewicht zur Arbeit in Den Haag war die holländische Kirchgemeinde, mit welcher Kind verbunden war. Sie sang im Chor und konnte so die Gottesdienste mitgestalten. Da sie während der Zeit am Strafgericht nicht über ihre Arbeit sprechen durfte, war das eine tolle Möglichkeit, in der Realität von Holland auch noch ein Leben neben der beruflichen Tätigkeit aufzubauen. Auch Kinds Glaube brachte sie durch diese schwierige Zeit. Zu hoffen, dass letztlich alles bei Gott aufgehoben wird und dass da noch jemand ist, der Gerechtigkeit geschehen lässt, gerade, wenn während der Verhandlungen etwas nicht bewiesen werden konnte und es einen Freispruch gab, brachte ihr Halt. Durch Gott aufgehoben zu sein in allem, was geschieht – so konnte Kind ein Stück von der Last abgeben.

Hoffnung
Die holländische Gastfreundschaft und Offenheit bestärkte ihren Glauben an das Gute im Menschen. Zu erfahren, dass man überall auf der Welt Menschen treffen und im Austausch neue Sichtweisen kennenlernen kann. Das Leben und Arbeiten in anderen Kontexten eröffnete Kind eine neue Sicht auf den Menschen. Mitzuerleben, mit was für einem unglaublichen Einsatz Menschen zusammenarbeiten, um Gutes zu bewirken, bestärkte Kinds Hoffnung.

Neue Ufer
Nach dieser Zeit und anschliessenden Einsätzen im Bereich Friedensförderung in Bosnien und Herzegowina, Kosovo und Genf, wollte Kind zurück in ihre Heimat und zu ihren Wurzeln. Ihr Engagement als international tätige Anwältin schien abgeschlossen und sie war nach mehr als fünfzehn Jahren im Einsatz für die Aufarbeitung von Kriegsverbrechen erschöpft. 2019 begann sie den Quereinstieg Theologie. Als junge Frau hatte sie sich zu unfertig gefühlt, Pfarrerin zu sein und die Verantwortung für eine Gemeinde zu übernehmen. Nun brachte sie einen Rucksack voller wertvoller Erfahrungen aus ihrem Berufsleben als Anwältin mit. Ihre grosse Zuneigung zu den Menschen hatte sie auch in Den Haag nicht verloren. Die Zeit als Anwältin lehrte sie Offenheit für Menschen verschiedenster Art und mit unterschiedlichen Lebensläufen. Nun widmet sie sich als Pfarrerin den Fragen, Ängsten und Konflikten der Menschen. Der Glaube wurde ihr schon in die Wiege gelegt. Kind wuchs in einem christlich-bürgerlichen Elternhaus auf, ihr Vater war Kirchengemeindepräsident, ein Gross- und ein Urgrossvater waren Pfarrer. Wie ein roter Faden zieht sich der Glaube durch ihr Leben, als etwas Dauerhaftes, das Beistand geben kann.

Aufgehoben
Warum lässt Gott Kriege zu, unter denen unzählige Menschen leiden? Diese Frage bleibe ein Stück weit unbeantwortbar, so wie Gott unverfügbar sei. «Gott schuf uns als freie Menschen», so Kind, «und mit dieser Freiheit übertrug er uns auch eine Verantwortung für die Schöpfung und den Umgang der Menschen miteinander. Der Gedanke, dass alles, was wir in unserem irdischen Leben erfahren, in etwas Grösserem aufgehoben ist, von dem wir nichts wissen, ist tröstlich.» Nicht in dem Sinne, dass nach dem Tod das Paradies folge, aber dass Gott sehr wohl jeden Einzelnen in grosser Not im Blick hat und niemanden aus den Augen lässt. Bei einer Sache aber ist Kind sich ganz sicher: Kriege können niemals Probleme lösen.

Juliane Bilges

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