Die (Anti-)Revolutionäre von 1848

Das Gedenkblatt zur Einführung der Bundesverfassung vom 12. September 1848 zeigt Helvetia mit der Bundesverfassung, von einem alten Eidgenossen gekrönt. Links und rechts davon sind Bürger in Uniform und in Zivil dargestellt. (Illustration: zvg)

Der schweizerische Bundesstaat wird dieses Jahr 175 Jahre alt. Wie der «Geniestreich von 1848» auch noch gesehen und gedeutet werden kann, erklärte Alfonso Hophan vor den rund 70 Gästen des Historischen Vereins des Kantons Glarus.

Dr. iur. Alfonso Hophan, Gerichtsschreiber am Obergericht des Kantons Glarus, beschäftigt sich wissenschaftlich mit Verfassungsrecht und Verfassungsgeschichte. Am 21. März hielt er den Vortrag «Die Revolution von 1848». Alfonso Hophan betrachtet die Gründung des Bundesstaates vor 175 Jahren unter dem recht unschweizerischen Gesichtspunkt der Revolution. Normalerweise bringt man aber die Geburt der modernen Schweiz nicht mit Volksaufständen, Barrikaden oder gar Guillotinen in Verbindung. Im Gegensatz zur «Revision» nimmt die «Revolution» weder Rücksicht auf die Tradition noch das bisherige Recht. Sie bricht, statt weiterzuentwickeln. Auch die Schweiz erlebte Revolutionen.

Ständige Revolutionen
In der alten Eidgenossenschaft gab es keine geschriebene «schweizerische Verfassung», sie war ein Staatenbund. Erstmals entstand 1798 eine Schweiz mit geschriebener Verfassung, die Helvetische Republik, nach französischem Vorbild: zentralistisch und ohne Untertanen und Herren. Doch diese Verfassung wandelte sich bis 1803 fast monatlich, teils unter dem Eindruck von bürgerkriegsähnlicher Gewalt. Aber wie diese unglückliche erste Schweizer Verfassung kam auch deren Ende aus dem Ausland: Napoleon diktierte «unter Einbezug der Eidgenossen» den Kompromiss, die Mediationsverfassung. Die neuen, «befreiten» Kantone blieben bestehen, dafür gab er den einzelnen Kantonen ihre alten Verfassungen samt Landsgemeinden zurück. Als Korse glaubte Napoleon zu wissen, dass «Montagnards» eben ein gewisses Mass an Freiheit bräuchten.

Nach Napoleons Sturz diktierten 1815 die fürstlichen Siegermächte den Fortgang der Schweizer Verfassungen: Die Eidgenossenschaft blieb ein Staatenbund von 22 souveränen Kleinststaaten, der nur durch einen sogenannten Bundesvertrag lose zusammengehalten wurde. Der Vertrag kannte keine Revisionsbestimmungen und konnte somit nur mit Einverständnis aller Vertragsparteien geändert werden. Damit war man wieder im Verfassungsverständnis der «ewigen» Bünde des Ancien Régime angelangt, allerdings mit einem fortschrittlichen Ansinnen garniert: Alle Kantone sollten eine Verfassung verabschieden und der Tagsatzung abgeben; für Juristen und Historiker bis heute ein bedeutender Schatz aus der Entstehungszeit unserer modernen Schweiz. Der glarnerische Beitrag dazu fiel allerdings dürftig aus: Man beschränkte sich auf ein «mageres Skelett» von sechs Artikeln, da man ja im Übrigen über «jahrhundertealte Übung» verfüge. Geschriebene Verfassungen genossen noch nicht den heutigen Stellenwert, zumal bei den Berglern. Das Chaos der Helvetik war noch präsent.

Liberale, Konservative … und Radikale
Es brauchte einige Zeit, bis die «Volkssouveränität» der Französischen Revolution wieder zu einer lauten Forderung wurde. In Folge der Juli-Revolution in Paris von 1830 wurden die meisten Kantone «liberal», so auch Glarus im Jahre 1836. Die Minderheit der Orte, die sich dem neuen Zeitgeist nicht anschliessen mochten, galten fortan als «konservativ».

Auf eidgenössischer Ebene strebten die Liberalen 1832 die «Revision» des Bundesvertrags an. Aber die «Bundesurkunde» scheiterte an den Volksabstimmungen in den Kantonen, weil sie den einen zu revolutionär und den anderen zu wenig radikal war. Letztere trieben ab da als «Radikale» die Revolution voran, welche auch vor einem Rechtsbruch nicht zurückschreckten, wenn es mit dem Recht nicht ging.

Und rechtlich wäre es nicht gegangen, denn über den weiteren Weg der Schweiz hätten weiterhin die Grossmächte und alle Kantone einstimmig entscheiden müssen. Aber der liberale Sieg im Sonderbundskrieg erledigte die konservative Minderheit, während die blutigen Revolutionen in Europa dessen Fürstenhäuser vollauf in Beschlag nahmen. Für die Schweiz blieb keine Zeit.

Das Volk organisieren
Noch vor Ende des Sonderbundskrieges begann die «Verfassungsrevisionskommission» zu tagen: 23 Männer aus ebenso vielen Kantonen, also keine Volksvertreter, sondern Abgesandte ihrer souveränen Kantone. Den Kanton Glarus vertrat der Ennendaner Fabrikant Kaspar Jenny, der als zuverlässiger Mitschreiber zwar eine erstklassige Quelle zur Arbeit der Kommission darstellt, aber sich politisch nur wenig einbrachte.

Ganz anders der radikale Waadtländer Henri Druey, der der «ungebundenen Kraft des Volkes» das Wort redete und meinte, das Volk dürfe alles und die Regierung brauche keinen Schutz. Auf der anderen Seite standen gemässigtere Leute wie der Berner Ulrich Ochsenbein oder der Zürcher Jonas Furrer: Eine Revolution «von unten wie von oben» sollte verhindert, das Volk «organisiert» werden. Das Volk solle bestimmen können, ja, aber in geordneten und vor allem rechtlichen Bahnen. Und die «Aufhebung und Umgestaltung der Verfassung» dürften nicht beliebig sein. Aber gerade in diesem letzten Punkt der Verfassungsrevision setzten sich die Radikalen durch: Die kommende Bundesverfassung sollte «jederzeit revidiert werden», denn Revolutionen hätte es immer dann gegeben, wenn die Verfassung nicht änderbar gewesen sei. Wenn die Väter der Verfassung von 1848 also eines nicht wollten, dann war es eine Revolution.

Die versteckte juristische Revolution
Obwohl man keine Revolutionen mehr wollte, kam man um eine letzte Revolution, um einen letzten Rechtsbruch nicht herum: Um den Bundesvertrag von 1815 in die neue Bundesverfassung und den Staatenbund zu einem Bundesstaat zu verwandeln, wurden Rechtsgrundlagen in den Übergangsbestimmungen geschaffen. Dazu war man weder befugt, noch waren die Übergangsbestimmungen – als Teil der künftigen Verfassung – formell in Kraft, um als rechtliche Grundlage für die Abstimmungen zu dienen. Hierin lag der revolutionäre, gegen das damalige Staatsrecht verstossende Akt. Indem man diese Übergangsbestimmungen geschaffen hatte, konnte man alle weiteren revolutionären Schritte darauf stützen: So sahen diese kantonalen Abstimmungen «auf die durch die kantonalen Verfassungen vorgeschriebene Weise» und eine anschliessende Entscheidung der Tagsatzung vor; nicht die in einem Staatenbund erforderliche Einstimmigkeit aller Vertragspartner.

Die Kantone schritten auf ganz unterschiedliche Weise zur Tat: In Glarus entschied die Landsgemeinde fast einmütig für die Bundesverfassung, in Freiburg und Graubünden der Grosse Rat und in Luzern wurden die Nichtstimmenden als Ja-Stimmen gezählt. Am Schluss sagte eine doppelte Mehrheit Ja zum neuen Staat, bei einer Stimmbeteiligung von nur 55 Prozent. Natürlich folgte die Tagsatzung in diesem Sinne. Und bereits im Oktober schritt das frischgebackene Schweizervolk zu den National- und Ständeratswahlen. Ihren ersten Bundesrat erhielten die Schweizer im Dezember 1848. 

Das Schweizer Volk und die Kantone hatten der ersten schweizerischen Verfassung ohne ausländischen Einfluss zugestimmt, allerdings in einem revolutionären Akt, der lediglich den «Schein des Rechts» aufrechterhielt. Dass wir uns nach 175 Jahren mit diesem Bundesstaat arrangiert haben, ja sogar berechtigt stolz auf ihn sind, ändert an dieser interessanten, «unschweizerischen» Tatsache nichts.

Rolf Kamm

Zum 175-jährigen Jubiläum der Bundesverfassung ist eine kantonale Feierlichkeit samt historisch-juristischer Einschätzung zwischen Mitte August und Anfang Oktober geplant.

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